aus meinem Memoiren-Buch Erinnerungen eines Patrioten - Motive und Stationen aus dem Schlusskapitel "Nachwort und Ausblick" :
...Am 3. Oktober 1990 war die deutsche Einheit, die Voraussetzung für ein einiges Europa, vollendet. Wenige Wochen später, am 21. November 1990 wurde in Paris die Charta von Paris von 32 europäischen Ländern, der USA und Kanada unterzeichnet. In der Präambel hieß es verheißungsvoll: "Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlussakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an."
Leider wurden diese Hoffnungen nicht erfüllt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion feierte sich der Westen lauthals und überheblich als Sieger in der Auseinandersetzung der beiden Blöcke. Vor allem die USA taten sich dabei mit unsensiblen Aussagen hervor. Höhepunkt dieser Haltung war die Bezeichnung von Russland, dem Nachfolgerstaat einer Weltmacht, als "Mittelmacht" durch einen amerikanischen Präsidenten, was in Moskau als Demütigung empfunden wurde.
Als besonders negativ für das Ost-West-Verhältnis erwies sich die Osterweiterung der NATO, die in den USA bezeichnenderweise "NATO-Expansion" tituliert wird.
In einer Diskussionssrunde 1996 über deutsch-russische Beziehungen mit Kanzleramtsminister Bohl und Kanzler-Kohls Redenschreiber Prof. Michael Stürmer, die ich moderierte, warnte der Russe Prof. Wjatscheslaw Daschitschew eindringlich vor einer NATO-Erweiterung nach Osten:
"Das wird zu einer neuen, der vierten Spaltung Europas in diesem Jahrhundert führen. Es wird zur Entfremdung zwischen Deutschland und Russland führen und wiederum werden wir auf entgegen-gesetzten Seiten der Barrikade stehen. Und wissen Sie, ich habe mich so stark für die deutsch-russische Zusammenarbeit , für die Einheit Deutschlands eingesetzt (Daschitschew war in der Sowjetunion Vordenker der deutschen Einheit) ; daher denke ich: wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass es zum vierten Mal in diesem Jahrhundert zu einer Entfremdung zwischen Deutschland und Russland kommt. Das würde zur Verschärfung der Situation, nicht zur Stabilität, sondern zur Instabilität Europas führen."
Im Zuge der NATO-Osterweiterung, die bis an die russischen Grenzen erfolgte, ist für die Russen das von den Amerikanern inszenierte Raketenabwehrsystem in den neuen NATO-Ländern, das gegen iranische Fernlenkwaffen wirksam sein soll, völlig unglaubwürdig. Russland fühlt sich vom westlichen Militärbündnis eingekreist, oder wie es der weltkundige Jounalist Peter Scholl-Latour bezeichnete "im Zangengriff zwischen NATO und dem immer stärker werdenden China." Als zudem die NATO im Schwarzen Meer im Einzugsbereich der russischen Schwarzmeerflotte große Manöver durchführen wollte, reagierte Russland mit der Aneignung der Krim. Die NATO-Osterweiterung und die Installierung eines Raketenabwehrsystems hat in Russland einen neuen Nationalismus hervorgerufen, mit dem sich die Einwohner um ihren Präsidenten Putin scharen.
Heute sind in Deutschland die Chancen vergessen, die sich am 25. September 2001 zeigten als Präsident Putin als erstes russisches Staatsoberhaupt im Deutschen Bundestag gesprochen hat. Die Strategie Russlands war damals nach Westen ausgerichtet. Es gab Vorschläge zu einem "gemeinsamen Wirtschaftsraum" von Wladiwostok bis Lissabon. Die Rede Putins wurde mehrfach von Beifall unterbrochen und zum Schluss mit stehenden Ovationen gefeiert.
Am Ende seines Auftritts sagte er: "Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses."
Auch wenn aus dieser hoffnungsfrohen Einladung Putins kaum Konkretes folgte, so hat der frühere sowjetische Präsident Michail Gotbatschow die Hoffnung auf ein gemeinsames europäisches Haus nicht aufgegeben. In seinem 2017 erschienenen Appell an die Welt "Kommt endlich zu Vernunft - NIE WIEDER KRIEG" heißt es: "Ich appelliere sowohl an unsere westlichen Partner als auch an die russische Führung, über alles sorgfältig nachzudenken und die Suche nach Wegen zur Partnerschaft energisch wiederaufzunehmen."
Der leider schon verstorbene deutsche Patriot Professor Wolfgang Seiffert, der zuletzt General-sekretär des Zentrums für Deutsches Recht in Moskau war und die zum Teil zu leichtfertige Berichterstattung über Russland beklagte, hat uns in einem Artikel im "Spiegel" eine Botschaft als Vermächtnis hinterlassen: "Wer die Lehren der Geschichte beherzigt, muss von der Tatsache ausgehen, dass der letzte große europäische Konflikt am schmerzhaftesten von Deutschen und Russen ausgetragen und erlitten wurde. Nur wenn diese beiden Staaten und ihre Völker miteinander harmonisieren, auf die politischen Interessen und Emotionen wechselseitig Rücksicht nehmen, sich in Handel und Wandel, Geist und Kultur so nahe kommen wie etwa Deutschland und Frankreich, dann erst findet Europa Frieden, Sicherheit und eine Basis für den Respekt der Menschenrechte."
Hier wartet noch eine große Aufgabe auf ihre Lösung in der deutschen und europäischen Politik. In einer Zeit, in der der amerikanische Präsident Trump Freude über den Brexit der Briten und über das mögliche Scheitern der Europäischen Union äußert, ist eine Neujustierung im Verhältnis zu Russland notwendig.
Michail Gorbatschow, dem wir 1990 die Einheit Deutschland und das Ende der Spaltung Europas verdanken, ist weiter optimistisch, er schreibt in seinem schön erwähnten Appel an die Welt: "Ich persönlich glaube fest daran, dass wir auf das Projekt Groß-Europa unbedingt zurückkommen werden. Dass wir letztendlich alle in einem gemeinsamen europäischen Haus leben werden."
Auf die Tatsache, dass sich Russland aus Enttäuschung über das ausgeschlagene Angebot an die EU mehr der kommenden Weltmacht China zuwendet, antwortet Gorbatschow: "Dennoch würde ich Russlands historisch bedingtes Bekenntnis zu Europa nicht infrage stellen. Zumal im Endeffekt Groß-Europa und Nordamerika sich das Ziel setzen sollten, eine transkontinentale Gemeinschaft zu bilden. Eine Partnerschaft, die sich über einen riesigen Raum erstrecken würde, als Sicherheits- und Kooperationsgürtel von Vancouver bis Wladiwostok. Eine schwierige Aufgabe, jedoch eine machbare. Da bin ich zuversichtlich."
Die deutsche Vereinigung der Bundesrepublik und der DDR wurde früher von fast allen für unmöglich gehalten. Und sie gab es doch. Sollte uns der Optimismus ihres Ziehvaters Gorbatschow nicht für eine größere gesamteuropäische und trankontinentale Politik Flügel verleihen?! Allen Widerständen und falsch gelaufenen Entwicklungen zum Trotz sollte wieder an den Auftrag der Pariser Charta vom November 1990 angeknüpft werden.
Zu einer Politik der gegenseitigen Verständigung zwischen West und Ost gibt es keine Alternative. Aus Misstrauen und Gegnerschaft erwachsen Krisen, die im ungünstigsten Fall nicht mehr beherrschbar sind.